DIETER NUHR
Sein wichtigstes Werkzeug ist die deutsche Sprache. Die beherrscht der Feinmotoriker des deutschen Kabaretts wie ein Olympia-Fechter seinen Degen, also elegant und zugleich grandios. Wo Andere wild die Keule schwingen, setzt er Worte wie Nadelstiche, fast jedes ist ein Treffer und zeigt Wirkung. Dafür hat er u.a. den Deutschen Kabarettpreis und den Deutschen Comedypreis gewonnen. Dass dieser Dieter Nuhr auch anders kann, das zeigte er in diesem Sommer auf Sylt. Hier präsentierte er sich als Meister der Bildersprache per Fotografie. Seine Ausstellung war im Rahmen der Sylt Art Fair bis zum 10. September zu bewundern.
von TORSTEN STIEGEMANN
Dahinter verbirgt sich ein wesentlicher, aber kaum bekannter Abschnitt seines Künstlerlebens: Ab 1981 studierte der in Wesel geborene und in Düsseldorf aufgewachsene Künstler Bildende Kunst und Geschichte auf Lehramt an der Universität Duisburg-Essen. Mit ersten kabarettistischen Fingerübungen finanzierte er bis zum Ersten Staatsexamen 1988 sein Studium. Die Fotografie entwickelte er als private Leidenschaft, ohne dass die Öffentlichkeit davon lange Zeit Notiz nehmen konnte. In den langen Zwangspausen der Pandemie kam der Fotokünstler dazu, diese Seite seiner Künstlerpersönlichkeit voll auszuleben und auch zu ordnen. Für die Besucher auf Sylt wurde eine Offenbarung daraus: Nuhrs zweites Leben als Globetrotter brachte Bilder eines Fremden im fremden Land hervor: Nuhr fotografiert Hintergründe, nicht Menschenbilder oder Tieransichten. Er selbst bleibt im Hintergrund, gibt den Bildern mit dem „digitalen Pinsel“ allerdings einen ganz persönlichen Ausdruck. Dieter Nuhr, der Fotokünstler, der mit Frau und Tochter in Ratingen lebt, spricht im Exklusiv-Interview ausführlich über seine Erfahrungen und seine Ziele als Fotograf. Der Mitgründer von Bündnis 90/Die Grünen hält heute kritisch, ohne verletzend zu werden, Abstand zu allen politischen Parteien. Klar, dass er auch diesmal eine klare Meinung äußert zu den Fragen, die aus aktuellen Gründen an den politischen Kopf Nuhr gestellt werden müssen. Wir wünschen viel Lesevergnügen!
DAS INTERVIEW
MYILANDS: Guten Tag Herr Nuhr, was haben Sie auf Sylt fotografiert?
DIETER NUHR: Eigentlich nicht viel, weil Sylt in erster Linie aus Landschaft besteht. Und die hab´ ich bereits im letzten Jahr fotografiert, sie hat sich ja auch seitdem nicht wesentlich verändert, was übrigens eine gute Nachricht ist in Zeiten des Klimawandels. Es wäre ja schon wegen der hohen Immobilienpreise schade, wenn die Insel vom steigenden Meeresspiegel weggespült würde.
Sie lieben Menschen, skurrile Menschen, skurrile Situationen, skurrile Geschichten. Gab es solche Erlebnisse?
Eher weniger. Skurrilität ist ja nicht die Hauptqualität der Insel, glaube ich. Obwohl doch, ich hatte eine Einladung zum Rolls-Royce fahren. Das hatte ich auch nicht oft, muss ich sagen. Aber auch so etwas überrascht einen ja nicht wirklich auf dieser Insel. Absolut.
Sie kochen gern. Konnten Sie dieser Leidenschaft auf Sylt nachgehen, oder haben Sie sich in einem der vielen Top Restaurants bekochen lassen?
Kochen kann ich zu Hause, auf Sylt wäre das Erlebnisverweigerung. Ich war in der Sansibar, was wirklich toll war. Das Essen hervorragend, und die Weinkarte sucht wirklich Ihresgleichen, großartig. Insofern war ich da sehr, sehr zufrieden. Ansonsten sind wir mit dem Fahrrad rumgefahren und an verschiedenen Lokalitäten vorbeigekommen. Ich glaube, verhungern, verdursten muss niemand auf der Insel. Auch das ist eine gute Nachricht.
Viele unserer Leser bringen Dieter Nuhr mit Fotografie und Malerei nicht in Verbindung, aber vor der Bühnenkunst war die bildende Kunst …
Auf jeden Fall. Ja, ich habe Malerei gemacht, aber um meinen Eltern das Gefühl zu geben, dass das Ganze irgendwann zum Gelderwerb führt, habe ich auf Lehramt studiert. Ich wollte aber immer Künstler werden, das war so mein Hauptanliegen. Also sprich bildender Künstler. Und jetzt ist mir das im Nachhinein auch ganz gut gelungen. Ich stelle relativ viel aus. Vor allem International, wo man mich nicht als Kabarettisten kennt. Also sprich in China, oder nächstes Jahr beispielsweise im Senegal, Italien und Russland.
Haben Sie seinerzeit das Glück gehabt ohne finanzielle Sorgen studieren zu können, oder waren Sie damals schon auf der Bühne, um das Studium zu finanzieren?
In der Tat habe ich mir am Ende das Studium mit der Bühne finanziert. Und ja, das war eigentlich eine unfassbar komfortable Situation. Weil das Finanzieren des Studiums auch noch Spaß machte. Ich konnte meiner Leidenschaft nachgehen. Diese Situationen kannten viele nicht, die mit mir zusammen studiert haben.
Fotografie ist das Festhalten einer Situation, ein Standbild. Aber das reicht Ihnen nicht. Sie setzen einen digitalen Pinsel dabei an. Warum?
Man muss in dieser bildüberfluteten Zeit einen guten Grund haben, um weitere Bilder hinzuzufügen und auszustellen. Meine Bilder sind Bilder aus aller Welt, eigentlich objektive Abbilder, die aber durch die Bearbeitung in einen Zwischenbereich aus realem Abbild und subjektiver Wiedergabe verschoben werden. Es ist ein Hin und Her aus Verdecken und Aufdecken, kann man sagen. Im besten Fall sind Malerei und objektives Abbild im Gleichgewicht. Die Malerei verdeckt das eigentliche Motiv und macht es zu etwas, was aus dem Verborgenen durchschimmert. Die Malerei macht das Foto zum Bild.
Ihre Motive kommen nicht aus Gelsenkirchen oder vom Bodensee. Sie haben mit der Kamera inzwischen über 100 Länder bereist. Geht es bei den Fotografien eher ums Aufarbeiten von Eindrücken, ein Festhalten Ihrer Erinnerungen wie bei uns Normalo-Fotografen – oder stimmt der Eindruck, dass Ihre Bilder gern eine neue Geschichte erzählen?
Das Erinnerte wird durch die Malerei als subjektiv kenntlich gemacht. Die Bilder sind Ergebnisse meiner Lebensraum-Erkundung. Das war – und ist hoffentlich irgendwann wieder – der Sinn meiner Reisen, das Kennenlernen meiner Heimat, also der Erde. Mit Corona hat sich alles geändert. Plötzlich war Reisen nicht mehr möglich. Durch Corona hat sich also die Distanz zur Fremde wieder vergrößert. Umso mehr erscheinen die Bilder hinter der Malerei wie ferne Erinnerungen. Das Fremde wird zu einem geheimnisvollen Ort.
Konsequenterweise gehen Sie mit ihren Bildern dann wieder hinaus in die Welt. Wollen Sie den Menschen damit etwas zurückgeben?
Das wäre mir jetzt zu pathetisch, das so zu behaupten. Aber das ist natürlich ein schöner Gedanke, dass die Bilder draußen in der Welt entstehen, zu mir nach Hause kommen und dann selbst wieder hinaus in die Welt reisen. Und ich freue mich natürlich darauf, irgendwann wieder selber zu den Ausstellungseröffnungen reisen zu können. Ich war noch im Oktober 2019 in Chengdu. Was ja eines der Corona – Zentren in China war, Chengdu und Wuhan. Und das ist ja angeblich schon losgegangen im Oktober 2019. Gott sei Dank bin ich gesund nach Hause gekommen. Damals dachte noch niemand an eine Pandemie. Ich kann nur ganz stark hoffen, dass Reisen irgendwann wieder möglich sein wird. Ich hoffe sehr, dass ich beispielsweise zu meiner Ausstellungseröffnung im Senegal reisen kann.
Hat Sie die Pandemie mit den Lockdowns noch stärker zur Fotografie gebracht?
In der Tat, glaube ich, dass die Coronazeit eine Zeit war, in der man zu sich gekommen ist. Ich habe versucht, die Zeit positiv zu nutzen. Viele Menschen, glaube ich, haben so etwas gespürt wie eine Schranke, vor der man stehenbleiben muss und wo man warten muss. Ich finde, man muss immer auch die Chance sehen, die Veränderung mit sich bringt. Bei mir haben sich schon ein bisschen die Prioritäten verändert. Ich hatte plötzlich mehr Zeit, mich um meine bildnerische Arbeit zu kümmern. Und das hat mir sehr gefallen, auch weil die Stimmung im Umfeld von politischem Kabaretts unangenehm gereizt ist. Es herrscht große Aggressivität, große Intoleranz und auf allen politischen Seiten einfach fehlende Bereitschaft, sich auch selbst mit Humor zu betrachten. Da war es schön, auszubrechen. Trotzdem freue ich mich, wenn es bald auch wieder auf der Bühne weitergeht. Vor allem hoffe ich, dass sich die Themen wieder verbreitern und man nicht in einem Jahr immer noch monothematisch über Corona die Welt zu interpretieren versucht. Es gibt noch mehr als das. Ich denke, spätestens nach der Bundestagswahl werden neue Themen dominieren.
Wird Ihnen als politischem Spötter die Antipodin Angela Merkel sehr fehlen?
Persönlich nicht, ich kannte sie ja gar nicht. Die potentiellen Nachfolger bieten ja auch genügend Anlass, sie mit Humor zu betrachten. Die einzige Kontinuität im Leben ist Veränderung. Und das Heute ist immer die gute alte Zeit von morgen. Vielen erscheint die Zeit Merkels als Stillstand. Da ist was dran. Aber schon morgen werden einige den Stillstand als Stabilität werten. Ob mir Frau Merkel wirklich fehlen wird, wird im Wesentlichen davon abhängen, was danach kommt. Da bin ich sehr gespannt.
Was sagen Sie zur heutigen Politikelite? Als ehemaliges Gründungsmitglied der Grünen haben Sie doch sicherlich eine fundierte Meinung zur Partei und zur Spitzenkandidatin Baerbock?
Ich bin klassisch links-grün sozialsiert, aber die Zeiten ändern sich. Man lernt dazu im Leben, zumindest im besten Fall. Und ich glaube, dass man im fortgeschrittenen Alter alles mit größerer Distanz betrachtet. Ich würde mich jetzt ungern über einzelne Kandidaten auslassen, aber die Grünen argumentieren so, als würde bei dieser Bundestagswahl über den Klimawandel entschieden. Das ist lächerlich. Jemand muss ihnen sagen, dass es im September nicht um die Weltherrschaft geht. Wer hier die Wahl gewinnt, ist für den Klimawandel völlig unwesentlich. Ich habe im Übrigen nicht erst während der Coronazeit eine große Empfindlichkeit gegenüber jeglicher Form von Paternalismus entwickelt. Es scheint, dass Politik immer mehr bereit ist, die Menschen zu gängeln, ihnen bis ins Privateste vorzuschreiben, was sie tun sollen. Ich bin aber nicht zu Hause ausgezogen, damit die Politik die Rolle meiner Mutter übernimmt. Ich wäre froh, wenn sich Politik in den nächsten Jahrzehnten ein wenig mehr aus meinem Privatleben entfernen würde. Ich bin kein klassischer Wähler von Parteien, die sich ihren Wählern gegenüber als Erziehungsberechtigte fühlen.
Sie sind massiv angegangen worden als Sie sich zum Islam und den in Deutschland lebenden Muslimen geäußert haben. Auch Ihre Äußerungen zu Fridays for Future wurden mit Proteststürmen beantwortet. Der einstmals links verortete Dieter Nuhr wurde plötzlich stark auch von links attackiert. Was macht das mit dem Menschen Dieter Nuhr? Sind Sie vorsichtiger geworden; weil das Umfeld diskussionsunfähiger scheint? Hat Sie das vielleicht ein wenig lustloser gemacht?
Nein, auf keinen Fall. Aber natürlich fängt man irgendwann an, die erwartbaren Diskussionen, die Auftritten folgen, schon vorab mit einzubeziehen in das, was man schreibt. Also vorausschauender zu schreiben. Es geht heute oft in meinen Texten auch um die Unfähigkeit der Menschen, überhaupt noch eigene Gedanken zu entwickeln. Ich glaube, dass meine Arbeit, schon durch meine Sendung heute eine andere Bedeutung hat als noch vor zehn Jahren. Weil sie anders in der Gesellschaft reflektiert wird. Auch das fließt beim Schreiben mit ein. Der ganze Prozess ist insofern ernster und politischer geworden. Meine Aufgabe als Satiriker sehe in erster Linie darin, scheinbare Wahrheiten infrage zu stellen, das hat für mich etwas Aufklärerisches. Da ich da weder rechts noch links ausnehme, ist meistens irgendjemand beleidigt, mal die einen, mal die anderen. Ich habe aber zu den meisten Themen eine ambivalente Meinung. Fast alles hat mehrere Seiten. Ambivalenz aber wird heute nur noch ungern ausgehalten. Man erwartet entweder uneingeschränkte Huldigung oder totalen Verriss. Aber die meisten Dinge in diesem Leben sind nicht schwarz-weiß. Dazu kommt: Heute wollen viele Leute nur noch ihre eigene Meinung hören, jede andere Haltung betrachten sie als Zumutung. Auch in der Satire geht es oft extrem einseitig zu. Das ist ermüdend.
Dürfen Sie noch sagen, was Sie wollen?
Absolut. Jeder darf das. Es hat allerdings oft soziale Konsequenzen. Von Senderseite aus gibt es für mich keinerlei Einschränkungen. Ich fühle mich bei meinem Sender sehr gut aufgehoben, das kann ich gar nicht oft genug sagen. Regelmäßig kommt die Intendantin meines Heimatsenders RBB zu Besuch und versichert mir, dass ich bitte genauso weitermachen soll wie bisher, gern auch polarisierend. Man freue sich über die Aufmerksamkeit. Ich kann mich über diese Rückendeckung nur freuen. Was sich geändert hat gegenüber früher, ist die soziale Behandlung, die man nach einer Sendung erfährt. Oft geht der Shitstorm los. Selten wird argumentiert, meistens etikettiert. Ich wurde als Rassist bezeichnet und als linker Hetzer, auch als liberale Drecksau oder Propagandist der Kanzlerdiktatur. Ich bin offenbar alles, rechts, links, Mitte, und in der Folge bin ich das Hassobjekt der jeweils anderen Seite. Gerade in der Linken redet man ja gerne von „Abwertung“ oder von „Entwertung“ von Menschen, die nicht zum „Objekt“ werden dürften. Das ist im medialen Bereich eher die Regel als die Ausnahme … So ist unsere Zeit. Abweichendes Denken wird durch soziale Erniedrigung bekämpft. Das ist ziemlich armselig.
Trotzdem noch die Bitte um zwei Ausblicke: Erstens: Wagen Sie einen Tipp zur bevorstehenden Bundestagswahl, welche der denkbaren Koalitionen kommt nach Ihrem Eindruck heraus, während alle behaupten, auf den Kanzler oder die Kanzlerin käme es an?
Vielleicht wird in den nächsten vier Jahren wöchentlich gewechselt. Spätestens wenn alle Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, wird es spannend. Am Ende lässt sich vielleicht Markus Söder zum König von Bayern krönen und tritt mit den Bayern aus Deutschland aus. Dem folgen Sachsen und Schwaben. Und dann wird Politik endlich disruptiv. Ich bin sicher, von diesem Szenario hat Söder schon geträumt. Gott sei Dank werden in der Politik Träume selten wahr.
Und zweitens: Wenn diese Ausgabe unseres Inselmagazins erscheint, ist 2021 fast schon zu drei Vierteln vorbei. Haben Sie eigentlich schon Notizen für Pointen in Ihrem alljährlichen ARD-Jahresrückblick bereit, wie also werden Sie mutmaßlich den Charakter dieses Jahres im Dezember beschreiben?
Ich werde wahrscheinlich noch immer über Corona reden müssen, außerdem über Covid 19, SARS-Cov 2, Coronavirusvarianten, und hatte ich Corona schon erwähnt? Ich werde erklären, warum die ganzen angeblichen Impfopfer von Bill Gates immer noch fröhlich unter uns leben und erheblich gesünder sind als die, die aus Gesundheitsgründen die natürliche Impfung vorgezogen haben, nämlich die durch Infektion. Und es wird natürlich auch darum gehen, dass man geradeaus denken sollte, weil es quer offenbar nicht funktioniert. Die das Querdenken in diesem Jahr versucht haben, haben sich jedenfalls allesamt das Gehirn dabei verrenkt. Irrsinn wird ohnehin ein großes Thema sein, denn ich gehe mal davon aus, dass die Irren auch bis zum Jahresende nicht weniger werden.
Herzlichen Dank dafür! Zum Abschluss eine für Insel-begeisterte Leserinnen und Leser spannende Frage: Warum zieht Dieter Nuhr unter den Balearen Ibiza vor – und nicht Mallorca?
Das hat sich einfach so ergeben. Wir haben Freunde, die uns gesagt haben: „Kommt doch mal mit nach Ibiza.“ Und die haben uns diese etwas verrückten Seiten der Insel gezeigt. Da sind wir dageblieben. Dieses Hippie-neske finde ich ganz angenehm. Außerdem sind wir an einer der einsamsten Stellen der Insel. Blick auf Felsen im Wasser, fertig. Wunderbar.